Geborgen aufwachsen -
– das beinhaltet neben einer sicheren, kontinuierlichen und liebevollen Betreuung und Begleitung auch eine überschaubare und angenehme Alltagsstruktur. Das Leben in der Kinderheimat soll sich so wenig wie nötig vom normalen Familienleben unterscheiden – was bei einer Gruppengröße von acht Kindern und sechs pädagogischen Stellen schon eine Herausforderung ist. Doch von außen betrachtet funktioniert der Alltag recht familiär:
Bevor das erste Kind aufsteht, ist der Frühdienst schon präsent, bereitet den Frühstückstisch vor, weckt alle Kinder bzw. schaut, ob die größeren auch ihren Wecker gehört haben. Da sein, Mut machen, mithelfen, damit nichts vergessen wird und kein Turnbeutel stehen bleibt, „tschüss“ sagen. Die Hausarbeit, wenn alle aus dem Haus sind, ist ebenso familientypisch: Betten machen, Wäsche waschen, einkaufen, kochen, dazwischen telefonieren, Pläne schreiben, Termine organisieren. Einmal in der Woche trifft sich das gesamte Team zum gemeinsamen Frühstück und anschließenden Teamgespräch, wofür wir uns den ganzen Vormittag Zeit nehmen. Regelmäßig stattfindende Supervision durch externe Berater ergänzt die pädagogische Arbeit.
Auch wenn viele durch Ganztagsschulen nicht zum Essen nach Hause kommen können, was wir sehr bedauern, kochen wir jeden Tag frisch. Die Arbeit in der Küche, das Zubereiten von gesunden Mahlzeiten und die Kontakte, die dabei entstehen, sind uns sehr wichtig. Viele Gespräche finden in der Küche statt. Die Kinder, die nach Hause kommen, schauen gern zu, helfen mit, lernen nebenbei, wie man kocht und auch die Küche in Ordnung hält. Sie können etwas beitragen, sind stolz, wenn sie das erste Mal selber am Herd gestanden haben, merken aber auch, dass sie gewisse Regeln einhalten müssen, damit es gelingt. Ein weites Lernfeld!
Auch der Nachmittag ist strukturiert: Hausaufgabenzeit im Lernzimmer, Verabredungen, Zeit für Hobbies, Sport, freie Spielzeit. Wenn irgend möglich, nutzen wir unser großes Außengelände. Am Abend versammeln sich alle am Abendbrottisch – die einzige Mahlzeit, wo alle zusammen sind. Hier wird viel geredet, es werden Infos ausgetauscht, manchmal auch Streit geschlichtet, der am Tag entstand. Nach Alter gehen alle zu festgelegten Zeiten ins Bett, und wir legen Wert darauf, mit jedem Kind noch einmal Zeit zu verbringen – sei es, um Ängste zu lindern, Fragen zu beantworten oder um den nächsten Tag zu besprechen. Dann ist auch Zeit für die „Großen“, die nun das Haus für sich haben, und sei es nur, um das Bildschirmprogramm allein bestimmen zu können.
Sind alle in ihren Zimmern, darf sich der Spätdienst nach einem Rundgang durchs Haus auch in die Mitarbeiteretage zurückziehen – jederzeit erreichbar für alle Kinder, aber im gemütlichen Schlafzimmer.
Am Wochenende ist entweder Zeit für Besuche bei der Familie oder für Unternehmungen, für die die Wochentage zu kurz sind: Shoppen fahren, Filme schauen, Medienzeit, Spiele, Bauen im großen Legokeller mit tausenden von Steinen, Fußball spielen auf dem großen Hof oder im Winter Schlitten fahren auf dem eigenen Schlittenhang hinterm Haus.
Kreativ sein macht in der Kinderheimat besonders Spaß, denn wir haben einen großen Kreativbereich und viele verschiedene Materialien, die es auszuprobieren gilt. Manchen Kindern reichen allerdings auch große Kartons und Klebeband.
Der Sonntagvormittag gehört dem Besuch des Gottesdienstes. In der familienfreundlichen, einladenden Atmosphäre der EFG Wiesenthal fühlen sich die Kinder wohl und nutzen die Angebote des Biblischen Unterrichts und des Kindergottesdienstes. Sie sind dort selbstverständlich Teil einer großen Anzahl von Kindern und knüpfen Kontakte. Auch als Ehrenamtliche können sie später in verschiedenen Bereichen mitarbeiten, sei es im Technik-Team oder in der Jungschar. Das gibt Selbstvertrauen und stärkt die soziale Kompetenz.
Rituale und Feste sind uns in der Kinderheimat ein großes Bedürfnis. Jeder Geburtstag wird gefeiert, mindestens mit einem Geburtstagskaffee, dem Wunschessen und einer Feier. Ostern, Weihnachten und Silvester gestalten wir gerne mit der ganzen Gruppe, und besonders die Heiligabende sind für alle unvergesslich – wie uns auch Ehemalige immer wieder versichern.
Zu den Mahlzeiten und am Abend beten wir miteinander und bringen so Dank und Bitte vor Gott. Wir verstehen uns so als Teil der Schöpfung und sind alle miteinander Empfänger von Gottes Gaben.
Aber auch das Schwere ist Teil des Alltags in der Kinderheimat: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, das Aushalten, wenn andere Besuch bekommen und man selber nicht, die Kämpfe mit dem Schulalltag und der Frust über das Geschehene, das eigene Versagen und Unvermögen. Konflikte untereinander müssen zuerst einmal ausgehalten und dann gelöst werden. So familiär alles scheint: Jedes Kind hat seine eigene Geschichte und wäre wohl lieber bei den Eltern in einer „normalen“ Familie. Das stellt auch uns Pädagogen immer wieder vor neue Fragen.
Wenn es angezeigt ist, erhalten unsere Kinder verschiedene Therapieformen wie z.B. Ergo- und Reittherapie. Manchmal hilft auch schon einfach Da-Sein, Zuhören, Mittragen.
Was bleibt, sind immer positive Erinnerungen. Viele Ehemalige berichten nach längerer Zeit, dass sie sich gern an bestimmte erlernte Dinge erinnern und diese in ihr eigenes Leben integrieren konnten. „Ich hatte trotz allem eine gute Kindheit.“ Das Gefühl des Angenommen-Seins, die Geduld, die ihnen entgegengebracht wurde, und auch manchmal die Schimpfe, die sie für Missetaten erhalten haben. Nie jedoch wurden sie gleichgültig behandelt, immer waren sie wichtig, beachtet, gewollt.
Dass dies gelingen kann, hängt von vielem ab – vor allem aber von Menschen, die diese Arbeit, in welcher Form auch immer, unterstützen, weil sie jedes Kind als ein von Gott geliebtes und gewolltes Geschöpf ansehen, das unsere gemeinsame Anstrengung wert ist.
Rafaela Soares Henriques Svenja Wurm
Kinderschutzfachkraft Traumapädagogin